Adolf Aich

Adolf Aich

Adolf Aich

(*1824 in Rottenburg, † 1909 in Untermarchtal)
Priester und Gründer der Stiftung Liebenau

Am 25. September 1824 wurde der Lehrerssohn Adolf Aich in Rottenburg/Neckar geboren. Nach dem Studium in Tübingen und Rottweil und der Priesterweihe 1851 war er Vikar in Leutkirch und Aichstetten. Danach folgte ein fünfjähriger Aufenthalt in der Schweiz, wo er unter anderem drei Jahre ein Lehramt in Rorschach innehatte.

Als durch den Tod des Pfarrers Michael Ritter von Jung die Kaplaneistelle St. Johann in Tettnang frei wurde, bewarb sich Aich erfolgreich und trat am 21. März 1859 die neue Stelle an. Neben der Seelsorge ergriff er die Initiative zur Restaurierung der verwahrlosten St. Johann-Kapelle, ein Aufwand, der über 2000 Gulden betragen sollte. Den Betrag brachte Aich auf Bettelfahrten in Süddeutschland und der Schweiz zusammen. Die Sanierung war 1865 abgeschlossen.

Schon in seiner Examensarbeit kam Aichs soziale Einstellung gegenüber Kranken und Pflegebedürftigen zum Ausdruck: „Im ganzen gesellschaftlichen Leben gibt es kaum einen edleren Dienst als den an den Kranken.“ Mit der Kaplaneistelle von St. Johann war eine Pflegestation mit seinerzeit 15 bis 18 Insassen verbunden. Ihnen und den Armen der Stadt Tettnang galt sein fürsorgliches Interesse. Seine Vorstellungen, ein gemeinsames Asyl für die Hilfebedürftigen der Armenhäuser und damit ein Krankenhaus für chronisch Leidende zu erstellen, nahmen konkrete Formen an. Informations- und Bettelreisen brachten weitere Erkenntnisse und finanzielle Unterstützung.

1866 gründete Aich mit zwölf Männern aus der Pfarrei Tettnang den St.-Johann-Verein mit dem Ziel, eine Pflegeanstalt für Unheilbare ins Leben zu rufen. In einem kleinen Haus in der heutigen Wilhelmstraße nahm die Anstalt im September 1866 ihre Pflegearbeit auf.

Nach diesem ersten Schritt arbeitete Aich an Plänen für eine größere “Sct. Gallus-Anstalt”. Vier Gründe führten zum Stopp des Vorhabens: Ablehnung der Anstalt durch einflussreiche Tettnanger Bürger, die hohen Kosten für einen Neubau, die Dringlichkeit einer baldigen Anstaltseröffnung und eine fehlende Wasserversorgung. Für 17.500 Gulden wurde stattdessen mit dem Schlösschen Liebenau im Juni 1870 das Kerngebäude der neuen Anstalt erworben und am 15. Oktober eröffnet. 1874 erreichte er, dass die Anstalt als juristische Person bürgerlichen Rechts anerkannt wurde. Auf eigenen Wunsch wandte er sich im gleichen Jahr wieder hauptamtlich der seelsorgerischen Tätigkeit zu: Er erhielt eine Pfarrstelle in Wilhelmskirch (Gemeinde Horgenzell), wo er bis zu seiner Pensionierung 1904 wirkte. Danach zog er nach Untermarchtal, wo er am 10. Juli 1909 starb und auch begraben ist.

Bis zu seinem Tode blieb Adolf Aich der Anstalt Liebenau als Verwaltungsrat, Ratgeber und Förderer eng verbunden. In Aichs Todesjahr war die Aufnahmekapazität auf 500 Insassen angestiegen.

 

Adolf Aich

Priester und Gründer der Stiftung Liebenau

 Fidelis Bentele

 Fidelis Bentele

Fidelis Bentele

(*1830 in Tettnang, †1901 in Stuttgart)
Historien- und Kirchenmaler

Als Sohn des Tierarztes Josef Anton Bentele und seiner Frau Franziska, geb. Günthör wurde Fidelis Bentele am 5. April 1830 in Tettnang geboren. Nach Volks- und Lateinschule begann 1845 seine Ausbildung an der Zeichenschule des Polytechnikums in München. Am 25. April 1847 fand er Aufnahme an der Münchner Akademie der Bildenden Künste. Staatliche Unterstützung ermöglichte ihm eine weitere Ausbildung an der Königlichen Kunstschule in Stuttgart. Als Schüler von Professor Bernhard von Neher entwickelte er hier eine Vorliebe für die religiöse Historienmalerei. 1856 erhielt Bentele ein Staatsstipendium und reiste nach Rom, wo er mit den Malern Overbeck, Cornelius, Wagner, Flatz, Koch sowie zahlreichen anderen jungen Künstlern Kontakt pflegte.

Zurück in Stuttgart wurde er 1859 zunächst als Hauptlehrer, dann als Professor an der Königlich Württembergischen Baugewerke-schule angestellt. 1860 bekam er erstmals einen Auftrag für die Anfertigung von Altarblättern für die Seitenaltäre der Pfarrkirche St. Gallus in Kressbronn-Gattnau. 1861 malte er die ersten von insgesamt 31 Werken für die neu errichte Pfarrkirche St. Gallus in seiner Geburtsstadt.

Nach seiner Hochzeit mit Mathilde Mährle, Tochter des Staats-Finanzbeamten Matheus Mährle, wurde 1864 ihr Sohn Gustav geboren. Ihm folgte ein Jahr später Sohn Fidelis Ottmar, der jedoch mit zehn Monaten starb.

Bentele war 35 Jahre Professor für Ornament- und Landschaftszeichnungen in Stuttgart. Neben seinem Lehramt verdiente er mit der Anfertigung von kirchlichen Kunstwerken seinen Lebensunterhalt. Er wird heute in erster Linie als Kirchenmaler wahrgenommen, was insofern zutreffend ist, da er für zahlreiche Gotteshäuser mit Schwerpunkt Oberschwaben, aber auch im Stuttgarter Raum und in der Ortenau über hundert sakrale Werke schuf. Er malte dabei überwiegend im Nazarener Stil, dem Kunstgeschmack seiner Zeit. Neben den sakralen Werken sind von Fidelis Bentele auch etwa 75 profane Bilder und zahlreiche Zeichnungen bekannt, die sich fast ausnahmslos im Privatbesitz befinden.

Fidelis Bentele starb hochgeehrt am 27. März 1901 im Alter von knapp 71 Jahren in Stuttgart und wurde auf dem dortigen Fangelsbach-Friedhof beigesetzt..

 

Fidelis Bentele

(1830 – 1901 in Stuttgart) Historien- und Kirchenmaler

Carl Gührer

Carl Gührer

Carl Gührer

(*1872 in Tettnang, †1953 in Tettnang)
Textilkaufmann

Der Bauernsohn Carl Gührer wurde am 14. Januar 1872 in der Tettnanger Karlstraße Nr. 8 geboren. Er absolvierte eine Lehre als Textilkaufmann, ehe er an verschiedenen Orten (u. a. in Düsseldorf und Berlin) berufliche Erfahrungen sammelte. Mit 25 Jahren gründete er 1897 ein eigenes Textilgeschäft mit Stoffen und Damenoberbekleidung am Bärenplatz Nr. 3, das er bis 1950 führte.

Carl Gührer hat sich bereits in seiner Jugend für das Vereinswesen, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Bürgerrechten gehörte, eingesetzt und dieses in seiner Heimatstadt maßgeblich mitgestaltet. Er belebte den seit 1848 bestehenden Turnverein, erwirkte 1905 seine Neugründung und steuerte dessen Entwicklung als Vorstand über 33 Jahre. Auch die Neuanfänge nach den Weltkriegen 1919 und 1946, nun unter dem Namen TSV, lagen in seiner Verantwortung. Daneben engagierte sich Gührer beim Aufbau der Freiwilligen Feuerwehr und war von 1914 bis 1920 deren Kommandant.

Von 1918 bis 1927 gehörte Gührer dem Gemeinderat an. In dieser Zeit entstand auch der Handels- und Gewerbeverein in Tettnang, dessen Vorsitz er 15 Jahre innehatte. Seine beruflichen Erfahrungen nutzte die Industrie- und Handelskammer, die ihn in ihre Vollversammlung berief. Später war er Delegierter des Württembergischen Industrie- und Handelstages in Stuttgart. Die Generalversammlung der Creditbank (heute Volksbank) wählte ihn 1928 in den Aufsichtsrat, dessen Vorsitz er von 1932 bis 1949 innehatte.

Carl Gührer unterstützte den „Liederkranz“ und die Blasmusik. Von 1923 bis 1938 war er Vorsitzender des Musikvereins und setzte sich für die Ausbildung eines leistungsfähigen Blasorchesters ein. Seinen sportlichen Neigungen entsprechend war er auch Mitglied des Radfahrvereins und der Freunde Kneippscher Anwendungen.

Anlässlich seines 80. Geburtstages plädierte eine Bürgergruppe für die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Gührer. Im Gemeinderat fand das Ansinnen allerdings keine Mehrheit. Sein Engagement für das Vereinswesen sei zwar lobenswert, genüge aber im Hinblick auf das Auswahlkriterium „Wertschätzung auch außerhalb des Gemeindebereiches“ nicht.

Carl Gührer starb am 14. Juli 1953 im Alter von 81 Jahren. Die 1983 eingeweihte Sporthalle am Manzenberg trägt ihm zu Ehren seinen Namen.

 

Carl Gührer

(1872 – 1953 in Tettnang) Textilkaufmann

Ritter Michael von Jung

Ritter Michael von Jung

Ritter Michael von Jung

(* 1781 in Saulgau, † 1858 in Tettnang)
Priester und Dichter

Am 29. September 1781 wurde Michael Jung als Sohn eines Schneidermeisters in Saulgau geboren. Nach der Lehre bei seinem Vater besuchte er 1796 die Lateinschule in Überlingen, studierte von 1801 bis 1805 mit Hilfe einer Stipendienstiftung in Salzburg Theologie, machte in Freiburg Examen und schloss seine Ausbildung im Priesterseminar der Konstanzer Diözese in Meersburg ab. 1806 feierte er seine Primiz in Saulgau. Jung wurde Vikar in Erolzheim und nach seiner zweiten Dienstprüfung 1811 mit 30 Jahren Pfarrer in Kirchdorf an der Iller.

Hier brach 1814 eine Typhusepidemie aus. Jung kurierte gegen ärztlichen Rat zunächst sich selbst mit einem starken Brechmittel und setzte dann zweckmäßige hygienische Maßnahmen durch, so dass die Seuche in seiner Pfarrei nur wenige Opfer forderte. König Friedrich I. von Württemberg schlug ihn dafür zum Ritter des Königlich Württembergischen Zivilverdienst-Ordens. Der Ritter-Titel, den Jung von nun an stolz trug, war mit dem persönlichen Adel verknüpft.

Schon 1812 hatte Jung begonnen gereimte Leichenreden zu verfassen und zur Laute auf dem Friedhof zu singen. Diese Grablieder sind so etwas wie ein Sittenspiegel seiner Zeit und ein unmittelbarer Blick in die Krankheitsgeschichten und Todesursachen der Bevölkerung im Illertal. Als er die Lieder drucken lassen wollte, verweigerte ihm der Bischof 1837 die Druckerlaubnis. Ritter von Jung ließ sich nicht einschüchtern und hielt an seiner eigenmächtigen Reform des Beerdigungsrituals fest. Er gab seine Leichenlieder im Selbstverlag heraus und nannte sie nach einer Trauermuse der Antike „Melpomene“.
1849, im Alter von 68 Jahren wurde von Jung auf die St. Anna-Kaplanei in Tettnang versetzt. Bis heute spricht man von einer Strafversetzung. Tatsächlich handelte es sich um „eine allergnädigste Verleihung eines seinem gebrechlichen Alter angemessenen Postens“.

Die Leute nahmen sowohl in Kirchdorf als auch in Tettnang wenig Anstoß an den originellen Grabliedern des Ritters und Kaplans Michael von Jung. Seine Grablieder, Theaterstücke, deutschen Vespergesänge und Metten hatten aufklärerische Absicht. Die lebenspraktische Anwendung trat in den Vordergrund. Sperrige Glaubensinhalte wurden umgangen. In seinen Predigten kamen Themen zur Sprache wie Erziehung der Kinder, Schulbildung, Kauf-, Miet- und Pachtverträge, Gesundheit von Mensch und Vieh, sowie naturkundliche Themen. Er rief zur Pockenimpfung auf, empfahl den Blitzableiter, warnte vor Kurpfuschern, äußerte sich zu landwirtschaftlichen Fragen, leitete Hebammen an, mahnte Schmuggler und Steuerhinterzieher, empfahl Mäßigkeit in allen Dingen. Den Sündern machte er die Hölle nicht allzu heiß, sondern wusste immer auch von der Barmherzigkeit Gottes zu erzählen. Stets hatte der Menschenfreund ein mitfühlendes Herz, auch beim Tod eines Wilderers, einer Kindsmörderin oder eines Selbstmörders.

Von Jung hatte als Volksschriftsteller Gespür für die Interessen und den Geschmack seines Publikums. Sein Stück „Der heilige Willibold“, eine schauerlich erbauliche Mischung von blutrünstiger Räuberklamotte und rührseligem Legendenspiel verrät nicht nur Anklänge an Schillers Räuber, auch die Zeit des „Schwarzen Veri“ und seiner Räuberkumpane zwischen Tettnang und Biberach ist darin verarbeitet.

Im Alter von 78 Jahren starb Michael von Jung am 24. Juli 1858 in Tettnang. Bei den Priestergräbern auf dem Alten Friedhof wurde er begraben.

 

Michael von Jung

(1781 – 1858) Priester und Dichter

Dr. Ing. Paul Eduard Klein

Dr. Ing. Paul Eduard Klein

Dr. Ing. Paul Eduard Klein

(*1907 in Riga, †1979 in Tettnang)
Ingenieur und Elektronikpionier

Die heutige Bedeutung Tettnangs als Standort der Elektronikschule und einer breit gefächerten Elektronikindustrie ist in erster Linie der Pionierarbeit von Paul E. Klein zu verdanken. Am 2. Dezember 1907 wurde er in der lettischen Hauptstadt Riga geboren. Mit 12 Jahren kam er aufgrund eines Stipendiums in ein Internat nach Potsdam. Hier wurde ihm 1923 ein kleines Labor eingerichtet, in dem er sich mit den Grundzügen der neuen Disziplin Rundfunktechnik beschäftigen konnte. Bereits 1925, mit 17 Jahren, erschien in der Fachzeitschrift ›Funk‹ seine erste Veröffentlichung.

Nach dem Abitur studierte er zwischen 1927 und 1933 an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg Elektrotechnik, Fachrichtung Fernmeldetechnik. Anschließend arbeitete er bei der Reichsrundfunk-Gesellschaft in Charlottenburg. 1934 berief ihn der Wissenschaftler Manfred von Ardenne als technischer Leiter in seine Oszillografengesellschaft in Köln. Diese Firma wurde 1936 von Siemens & Halske AG in Berlin übernommen. Bis zur Schließung 1945 war Klein Vorstand des Oszillografenlabors bei Siemens. In dieser Zeit entstanden zahlreiche seiner Veröffentlichungen und Patente auf dem Gebiet der Elektronik.

Nach Kriegsende arbeitete Klein zunächst bei Siemens in München, leitete dann ein technisches Büro und promovierte 1947 an der Technischen Hochschule in München im Fach Messtechnik mit der Gesamtnote ›sehr gut‹. 1948 gründete Dr. Klein in München die Firma Elektronenstrahl-Sichtgeräte, die schon ein Jahr später nach Stuttgart übersiedelte und sich nach den Initialen ihres Gründers ›PEK – Elektronenstrahl-Sichtgeräte‹ nannte.

Im Zuge seiner Bemühungen um Industrieansiedlungen konnte der Tettnanger Bürgermeister Rudolf Gnädinger Dr. Klein zur Verlegung seines Betriebs nach Tettnang bewegen. Mit anfangs zehn Mitarbeitern begann die Firma im Januar 1956 mit der Entwicklung, Herstellung und Vermarktung von elektronischen Messgeräten. 1962 baute Dr. Klein eine Lehrwerkstatt auf, um dem steigenden Bedarf an qualifizierten Elektronikmechanikern zu begegnen. Er erreichte, dass an der Gewerblichen Schule in Tettnang eine spezielle Fachklasse für Elektronikmechaniker eingerichtet wurde und entwarf gleichzeitig die dazu erforderlichen, landesweit gültigen Lehrpläne. Parallel dazu entwickelte, fertigte und vertrieb PEK Lehr- und Lernmittel für Schulen und Betriebe im Bereich Elektronik.

Dr. Klein setzte sich auch verstärkt für die Verbandsarbeit der elektrotechnischen Industrie ein, war Mitglied in verschiedenen Ausschüssen und Vorsitzender in drei Normenausschüssen. Auf Landesebene gründete er die Interessengemeinschaft ›Ausbildung auf dem Gebiet der Elektronik‹ und war Mitglied des Arbeitskreises Betriebliche Berufsausbildung beim Wirtschaftsministerium Baden-Württemberg. Jährlich organisierte er die bundesweit beachteten ›Tettnanger Tage auf dem Gebiet der Elektronik‹, an der Bildungsfachleute aus der Industrie, dem Handwerk und von Körperschaften des Bundes teilnahmen. Die erste Tagung 1961 fand noch im bescheidenen Rahmen im Rathaussaal statt. Ab 1966 musste man für die viertägige Tagung sogar die Stadthalle mieten.

Neben seinen zahlreichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen war Dr. Klein Initiator und Mitherausgeber der Lehrbuchreihe ›Leitfaden der Elektronik‹. 1973 verkaufte er seinen Betrieb, blieb aber Gesellschafter des Unternehmens und weiterhin für Forschung und Entwicklung zuständig.

Dr. Paul Eduard Klein starb in Tettnang am 17. August 1979 unerwartet im 72. Lebensjahr.

 

Dr. Ing. Paul Eduard Klein

(1907– 1979 in Tettnang) Ingenieur und Elektronikpionier

Dr. h. c. Josefine Kramer

Dr. h. c. Josefine Kramer

Dr. h. c. Josefine Kramer

(* 1906 in Tettnang † 1994 in Fribourg)
Wissenschaftlerin, Kinder- und Jugendpsychologin

Am 24. Dezember 1906 wurde Josefine Kramer als ältestes von sieben Kindern der Familie Kramer im Tettnanger Stadtteil Ried geboren. Ihr Vater war Maler und betrieb eine kleine Landwirtschaft. Nach dem Volksschulabschluss – der Besuch einer höheren Schule blieb ihr wegen der bescheidenen Verhältnisse des Elterhauses versagt – nahm sie Anfang der 1920er Jahre eine Stelle als Hausmädchen in Zürich an. Die Arbeitgeberin in dem wohlhabenden Haus erkannte Josefines Begabung, machte sie zu ihrer Gesellschafterin, nahm sie mit auf Reisen und setzte alles daran, dem jungen Mädchen einen möglichst großen geistigen Gesichtskreis zu eröffnen.

Auf ihrem weiteren Berufsweg widmete sich Josefine Kramer zunächst der Krankenpflege, bei der sie mit dem damals noch wenig beachteten Fach der Sozialpädagogik in Berührung kam. Mit 22 Jahren begann sie eine Ausbildung am Sozialpädagogischen Institut in Solothurn. Dies war der erste Schritt zu einer ungewöhnlichen wissenschaftlichen Karriere.

Ohne die erforderlichen Schulabschlüsse studierte sie an der Universität Fribourg, wo sie später selbst 25 Jahren lang am Heilpädagogischen Institut lehrte. Durch ihre Arbeit und Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen, deren Entwicklung auf die eine oder andere Weise gehindert war, drang sie immer tiefer in die Erforschung der Ursachen ein. Diese Arbeit mündete in zahlreichen Veröffentlichungen. Ihre Büchern zählen nach wie vor zu den Standardwerken auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie. In ihrem ersten, 1939 erschienenen Buch befasste sich Josefine Kramer mit dem „Sigmatismus“, der Störung bei der Bildung von S-Lauten. Ihr bekanntestes Werk „Intelligenztest“ erschien 1954, das Buch über die „Linkshändigkeit“ kam 1961 heraus. Bei ihrer Arbeit und den Veröffentlichungen kam es ihr darauf an, die vordergründigen Erscheinungen durch Verständnis für die Ursachen zu überwinden oder – wie im Fall der Linkshändigkeit – vom Makel einer Fehlleistung zu befreien.

Unter den vielen Ehrungen, die Josefine Kramer zuteil wurden, nimmt die Verleihung des Ehrendoktorats der Philosophischen Fakultät in Fribourg 1963 die wichtigste Stelle ein. Ein klassisches Instrument zur vergleichenden Feststellungen von Begabungen bei Kindern und Jugendlichen ist noch heute der „Kramer-Test“, benannt nach der gebürtigen Tettnangerin, der bisher einzigen, die es zu derart weltweitem wissenschaftlichen Ansehen gebracht hat.

Ihre positive Einstellung zum Leben kam auch durch ihre Freude an modischer Kleidung, an leuchtenden Farben, an Musik und Geselligkeit zum Ausdruck. Und bei allem Ruhm als Schweizer Wissenschaftlerin hing sie bis zuletzt an der Tettnanger Heimat, wo sie immer wieder Erholung und Entspannung suchte. Sie starb nach langer Krankheit im 88. Lebensjahr am 7. Dezember 1994.

 

Dr. h. c. Josefine Kramer

(1906– 1994) Wissenschaftlerin, Kinder- und Jugendpsychologin